Die Angst-Reaktionen des Pferdes
Menschen, die mit Pferden arbeiten, finden sich einem Tier gegenüber, das große Kraft und viel Masse hat, und das dem Menschen großen Schaden zufügen könnte. Dies löst bewusst oder unbewusst Angst aus, was vielfach dazu führt, dass man glaubt, die Pferde unterdrücken zu müssen, sie zu einem angepassten Verhalten zwingen zu müssen – vor allem, wenn man ein begrenztes Repertoire an Trainings-Werkzeugen hat. Dabei wird übersehen, dass die Pferde eine unglaubliche Bereitschaft zu Kooperation haben, wenn ihrerseits keine Angst im Wege steht, kein Schmerz oder keine Überforderung.
Die Vermutung, Pferde zu etwas zwingen zu müssen, führt zwangsläufig in die Situation, dass den Pferden Angst gemacht wird, Gewalt und/oder Ungemach angetan wird.
Angst und Reaktion
Die Wahrnehmung einer Situation landet im Stammhirn, dem ältesten Teil des Gehirns. Wenn dieses keinen Auslöser für Stress wahrnimmt, geht die Information weiter ins Großhirn zur Verarbeitung und zum Abspeichern. Hier findet unser bewusstes Denken statt. Wird dem Stammhirn ein Signal für Gefahr übermittelt, nimmt es die Abkürzung, weil keine Zeit ist, lange zu überlegen, ob diese Schlange nun eine Bedrohung darstellt oder nicht. Der Körper übernimmt die weiteren Reaktionen. Das Stammhirn steuert blitzartig die Angst-Reaktionen.
Erwarte bitte von keinem Pferd, das von Angst überschwemmt ist, dass es denken kann, oder dass das aus der Angst entstandene Verhalten (bewusst) gewählt hätte.
Flucht oder Kampf
Flucht oder Kampf sind die ersten Angstreaktionen, an die man denkt. Es gibt Individuen, die auf Gefahr eher mit Kampf, und andere, die auf Gefahr mit Flucht reagieren. Es ist aber auch eine Frage der Situation. Ist eine Wand hinter mir, der Fluchtweg versperrt, wird sogar ein Pferd, das eher zur Flucht tendiert, vielleicht schneller angreifen. Macht es die Erfahrung, dass Angriff erfolgreich ist, wird es lernen, eine höhere Tendenz haben, dieses Verhalten zu wählen und es auch bewusst einsetzen.
Wir müssen immer im Kopf haben, dass Pferd ein Verhalten wählen, weil es ihnen sinnvoll erscheint, um eine Situation zu bewältigen – nimm das Verhalten nicht persönlich, es ist nicht gegen dich gerichtet, sondern zur Situationsbewältigung ausgewählt. Deswegen müssen wir es trotzdem nicht gut finden!
Erstarren, Totstellen und Shutdown
Doch damit nicht genug. Es gibt auch noch drei andere Mechanismen, die bei Gefahr/Angst zum Tragen kommen. Das Erstarren, “starr vor Schreck werden” kommt in Verlade-Situationen oft vor. Die Pferde stehen starr auf der Rampe (und das Herz rast dabei). Diese Situation wird vielfach als Sturheit missinterpretiert und führt zu fürchterlichen Unfällen. Denn aus einem Erstarren, wenn man nun Bewegung erzwingt und es nicht sorgsam anstellt, kommen die Tiere immer noch mit der großen Angst und dann entweder mit „fight“ oder mit „flight“ heraus. Im Menschen-Alltag kennen wir das Erstarren bei plötzlichen Schrecksituationen. Ich persönlich kann durchaus erstarren, wenn ein Kind oder ein Tier in Gefahr kommt- nicht gut! Es ist aber eine Angstreaktion, die mir passiert. Ich habe sie auch oft bei Pferdehalter:innen beobachten können, wenn eine Situation kritisch wird. Statt schnell zu handeln ist das ein Moment des Erstarrens.
Wird ein Tier noch tiefer in diesen Zustand getrieben, kommt als nächste Stufe das “Abschalten”, das sich bis zum Umkippen oder gar zur Bewusstlosigkeit steigern kann. Zwischen Erstarren und dem totalen Shutdown ist bei Tieren der Totstellreflex angesiedelt. Dieses Phänomen wird bei Pferden weniger deutlich – man sieht es an Mäusen, mit denen die Katze spielt.
Herumkaspern
Eine weitere Reaktion, das “Herumblödeln”, finden wir oft bei Pferden – wie auch bei Kindern. Wenn sie unter Stress stehen, Angst haben oder unsicher sind, zeigen sie ein gerade zu paradoxes Verhalten. Pferde fangen an mit irgendetwas herumzuspielen, wie zwanghaft mit dem Maul aktiv zu sein. Letzteres ist besonders deshalb so interessant, weil vom Mund/Maul eine direkte Verbindung zum Limbischen System (des Gehirns) besteht. Das Limbische System steuert emotionale Reaktionen wie Wut, Furcht oder Zuneigung und ist ganz wesentlich am Lernen und Erinnern beteiligt. Es beeinflusst die emotionale Färbung des Lernens.
Lernen und Angst
Dieser Verbindung der Gefühle mit dem Lernen müssen wir uns bewusst sein. Ein Pferd kann nur gut lernen wenn es Gefühlslagen wie Spaß, Geborgenheit, Erfolg mit der Lernsituation verbindet. Angst bewirkt eine unüberwindbare Blockade für das Lernen. Denke nur an deine Schulerfahrungen- wie leicht kann es einem jemand unmöglich machen ein Fach interessant zu finden, wenn man das Lernen mit Angst oder anderen negativen Emotionen verknüpft.
Die fünf F
Im englischen Sprachgebrauch fasst man die Angstreaktionen zusammen als die 5F: fight, flight, freeze, fooling around (oder fiddle) und faint.
Positive Erziehungsansätze
sind also ein Muss in der Pferdeerziehung und das Schöne ist, dass inzwischen ein gewisses Angebot an positiven Erziehungsansätzen gibt. Die Tellington Methode ist eine in der Landschaft dieser Erziehungsansätze und sie öffnet weitere Türen zum Lernen. Eine der Nischen für die Tellington-Methode ist das Auflösen schon vorhandener Angst-Muster.
Angst manifestiert sich
Angst setzt sich im Körper fest. Die Angst wird in der Zellerinnerung gespeichert. Genau da kann man sie auch wieder frei setzen: Durch Körperarbeit.
Angsterfüllte Momente sind schrecklich. Egal ob die Angst berechtigt war oder nicht – wenn wir etwas erleben und zugleich von Angst überschwemmt sind, behalten wir diese Erlebnisse als schlimm in Erinnerung.
Wenn dein Pferd über den TTouch aus seiner Angst „herausgeholt“ wird, kann es eine Situation relativ angstfrei überstehen, die es vorher nur überschwemmt von Angst ertragen hätte. So kann es tatsächlich erfahren, dass Situationen okay sein können, die vorher nie gewesen sind. Und das gilt für Kühe, Traktoren, für Geräusche, für befremdliche Gegenstände und Abläufe, für fremde Menschen und für Berührungen, wie für das Gurten
Was tun bei Angst?
Wenn ein Pferd vermehrt Anzeichen von Stress äußert, wenn ein Pferd eine der oben aufgeführten Angst-Reaktionen zeigt, dann ist es an der Zeit etwas an der Zugehensweise zu verändern. Ich muss die Situation so verändern dass ich die angsteinflößenden Einzelkomponenten beeinflussen kann. Wenn das etwa Menschen sind, muss ich solche finden, die Vertrauen stärken. Ich muss das Pferd in der Situation soweit beruhigen und einstimmen, dass es der Herausforderung in guter seelischer und körperlicher Balance entgegentritt. Hier ist Tellington TTouch ein wichtiger Baustein. Und dann muss ich die Anforderung so verändern, dass sie eine erkennbare Anforderung sind einerseits, dass diese aber andererseits so bewältigt werden können, dass das Pferd nicht in Angstreaktionen gerät. Ich beginne positives Erleben zu „sammeln“, Erfahrung für Erfahrung. Und von einer zur nächsten wird es einfacher.
Die Angst vor der Angst
Es ist nicht klar zu sagen, ob eine Angstreaktion zu weiterer Angst führt, oder ob Angst eine Angstreaktion auslöst. In jedem Fall ist es so, dass das Erleben von Angstreaktionen ungünstig ist für das Überwinden von Unsicherheit. Deshalb ist es entscheidend, die Anforderungen so zu gestalten, dass man eine deutlich Angstreaktion (Flucht, kämpfen, erstarren, herumkaspern) vermeiden kann. Das bedeutet in manchen Fällen auch, klare Führung zu übernehmen ( eine geschickte Organisation des Lernfeldes). Das bedeutet auch, bei einer Überforderung direkt zu handeln und die Komponenten entsprechend zu verändern, dass Angstreaktionen nicht tiefer in die Unsicherheit treiben. Manchmal genügt ein Handwechsel, oder eine Veränderung des Ortes, um diese Wiederholung der Angstreaktion zu vermeiden. Reagiere schnell. Jede Wiederholung einer unerwünschten Angstreaktion führt zu mehr Angst.
Der Begriff der “Erlernten Hilflosigkeit”
nach: Seligman, Martin E. P
Hat ein Organismus ein traumatisches Erlebnis, das nicht kontrollieren konnte, oder macht nicht vermeidbare, nicht kontrollierbare und wiederholte bedrohliche Erfahrungen, so verliert das Pferd seine Motivation, wenn es später erneut mit schwierigen Bedingungen konfrontiert wird. Von betroffenen Menschen weiß man, dass sie zu der festen Überzeugung kommen, unangenehme oder schädliche Situationen nicht vermeiden zu können, sie fühlen sich hilflos dem ausgeliefert, was ein anderer als Herausforderung nehmen würde. In der Menschenwelt gilt die erlernte Hilflosigkeit als Erklärungsansatz für die Entstehung von Depressionen. Über depressive Pferde hat man noch nicht viel nachgedacht, aber das ist vermutlich ein Pferd, das abgestumpft wirkt, den Glanz in den Augen verloren hat, und sich als dumm präsentiert.
Viele unserer Pferde machen übrigens Erfahrungen von Trennungssituationen, die sie nicht beeinflussen können. Das ist manchmal unvermeidlich, aber durchaus mit Aufmerksamkeit zu organisieren.
Das Beispiel Sattel und Sattelgurt
Kennst du auch die Bilder und die Glaubenssätze, dass sich ein Pferd, das zum ersten Mal gesattelt wird, eben ausbuckeln müsse? Bitte behalte alles oben Gesagte gut im Kopf, wenn es um das erste Satteln eines jungen Pferdes geht. Denk auch an den Satz, den meine Freundin und Kollegin Anja Görtzen oft sagt: „Die erste Festplatte ist dauerhaft.“ Die ersten Erfahrungen, die ein Pferd macht, sind nicht leicht zu überschreiben. Lass es in Ruhe geschehen! Und schau bei allen Schritten, die du unternimmst, um dein Pferd an den Sattel zu gewöhnen, auf Anzeichen von Erstarren: Beobachte die Atmung an den Flanken, wenn du hast, leg einfach ein Pulsmessgerät an, beobachte, ob dein Pferd in der Lage ist, sich geschmeidig zu bewegen und leg deine Hände an den Körper des Pferdes – denn du kannst es fühlen, wenn der Körper in einen Zustand der Erstarrung geht, das fühlt sich leblos und hölzern an. Jede ertragene Angst treibt das Pferd noch tiefer in seine Angst!
Falls ein Schritt schiefgeht – stoppe SOFORT und gehe zwei Schritte zurück. Du musst deinem Pferd nicht beweisen, die Pferde wissen nichts von Gewinnern und Verlierern und haben eine Angstreaktion nicht „gegen dich“ gewählt. Arbeite am Vertrauen – und sei, wenn du magst, streng und sehr klar mit den Dingen, die dein Pferd schon kann, da kannst du auch einmal fordernd sein – aber nicht mit denen, vor denen es noch Angst zeigt. Aber bleibe dran, Schritt für Schritt, durchdacht, klar und umsichtig.